„Man wundert sich doch, wozu ein Kulturvolk in der Lage ist.“ - #21ESD - Siegfried Bustin

Siegfried Bustin ist 89 Jahre alt, als ich, die Autorin Corinna Below, zusammen mit dem Fotografen Tim Hoppe, ihn 2004 in dem deutsch-jüdischen Altenheim Hogar Hirsch in San Miguel, Argentinien besuchen. Ein kleiner, freundlicher Mann mit traurigen Augen. Zurückhaltend und wie unbeteiligt sitzt er da, auf seinem Stuhl am Tisch in seinem Zimmer Nummer 667. Er zeigt mit einem gewissen Stolz ein Heftchen über Tutzing. Siegfried Bustin bekommt leuchtende Augen, als er die entscheidende Seite aufschlägt, denn auch sein Vater wird erwähnt. Der war vor der Machtübergabe an die Nationalsozialisten einziger Klempner in dem 5000-Seelen-Ort in Bayern und dazu sehr anerkannt und beliebt, so erinnert sich der Sohn. Das ist Jahrzehnte später alles weit, weit weg, aber das Heftchen ruft die Erinnerungen an die schöne Zeit in Deutschland wach, so oft er will. 
In dieser Folge soll Siegfried Bustin von seiner Zeit in Tutzing und von seinen Erlebnissen nach Januar 1933 selbst erzählen. Er erzählt vom Antisemitismus, dass sein Vater eingesperrt wurde, weil ihn ein Nachbar wegen „Rassenschande“ angezeigt hatte. Er sagt: „Man wundert sich doch, wozu ein Kulturvolk in der Lage ist.“
 2004 hatte ich versäumt, den Artikel über den Vater von Siegfried Bustin zu kopieren. Auf der Suche nach Dokumenten über die Familie bekam ich vom Stadtarchiv Tutzing genau diesen Artikel zugeschickt: "Mein Meister Ferdinand Bustin" von Sepp Pauli. Sepp Pauli, so erzählt er selbst in diesem Text, war ein Freund von Siegfried Bustin. In den 1920er Jahren wurde er Geselle beim Meister Bustin. Später hat er seine Erinnerungen an ihn aufgeschrieben. 1991 ist der Text in den Tutzinger Nachrichten erschienen. Ein wichtiges Dokument mit vielen Details zum Leben der Bustins am Starnberger See, zur Freundschaft der Familien Sepp und Bustin, zum aufkommenden Antisemitismus und zu den Umständen der Ausreise nach Argentinien. Diesen Text hat der NDR Moderator und Sprecher Henrik Hanses für den Podcast eingesprochen. In Auszügen erzählt also auch Sepp Pauli, wie das in den 1930 Jahren war und warum Familie Bustin dann 1937 fliehen musste.

Om Podcasten

"Wir können doch nichts dafür. Deutsch ist und bleibt unsere Muttersprache." In San Miguel, einem Ort nördlich von Buenos Aires, steht das Hogar Adolfo Hirsch, das Altenheim der Deutsch sprechenden Juden Argentiniens. Ungefähr 170 alte Menschen leben hier, inmitten eines großzügigen blühenden Parkgeländes. Alle sind Einwanderer der ersten Generation. Sie sind in Deutschland, Österreich oder Ungarn geboren und ihre Lebensgeschichten sind bis heute eng mit Deutschland verknüpft, mit dem Deutschland der Nazizeit. Wir haben 49 von ihnen besucht, um mehr über ihr Leben zu erfahren. Einige haben wir in ihren Zimmern aufgesucht, andere im Park getroffen oder in der Stadt. Hier erzählen 49 Männer und Frauen von ihrer Emigrationsgeschichte, ihrem Verhältnis zu Argentinien und ob sie je darüber nachgedacht haben, wieder in Deutschland zu leben. Die Initiatorin des Projektes, Corinna Below (Journalistin) spricht in diesem Podcast mit ihrem Freund und Kollegen Carsten Janz über die Schicksale der Vertriebenen. Dazu sind Gäste geladen, Experten aber auch Verwandte oder Zeitzeugen. Und auch aktuelle politische Entwicklungen werden hier besprochen. Gegen das Vergessen.